Das Prinzip Hoffnung: Der Einzelhandel zwischen Strukturwandel, Corona und drohenden Insolvenzen

Wie der stationäre Einzelhandel unter Fehlplanungen und der Corona-Krise leidet. Ein trauriges Bild am Beispiel Aachen.

Der Strukturwandel im Einzelhandel ist nicht aufzuhalten – so lautet eine zentrale Erkenntnis der Corona-Krise. Alle Innenstädte müssen sich ihm stellen, und das nicht erst seit Pandemie-Beginn. Filialisierung und Vereinheitlichung von Straßenbild und Angebot, von Flensburg bis Augsburg, von Dresden bis Saarbrücken. Kundinnen, die mit dem Auto zur Mall auf der grünen Wiese fahren, Einzelhändler, die sich die Mieten in der City nicht mehr leisten können. Die Lieferwagen aller großen Online-Versender in den Vororten, aber die Bürger aus den Vororten nicht mehr in der Fußgängerzone.

Zwar versuchen die Kommunen, sich gegen die längst im Straßenbild sichtbare Entwicklung zu wehren. Hier und da gelang es, den Wandel vorübergehend aufzuhalten. Allzu oft jedoch bescherte die Politik ihren Einzelhändlern dabei aber neue Probleme. Die Corona-Pandemie lässt diese nun im Einzelhandel und Stadtbild deutlich sichtbar werden.

Beispiel Aachen: Schon vor Jahren konnte man auf die Idee kommen, die Stadt sei ein Spielball diverser Investoren. Am Rande einer etablierten Einkaufsstraße ließ man ganze Straßenzüge aufkaufen, um eine neue Shopping Mall zu eröffnen. Den Sorgen des ansässigen Einzelhandels setzte man entgegen, dies sei der Attraktivität der Innenstadt und damit auch ihnen zuträglich. Auch der Denkmalschutz konnte nur geringfügig intervenieren. Nach jahrelanger Planung schließlich eröffnete 2015 das „Aquis Plaza“ – eine klassische Shoppingmall mit Raum für 130 Geschäfte und Gastrofläche auf rund 32.000 Quadratmetern. 

Leerstand – in der Shopping Mall und in den Fußgängerzonen

Etwas mehr als ein Jahr verging, als das erste Restaurant des Einkaufszentrums für immer schloss, seither folgten weitere Schließungen und Neubesetzungen. Zwar sind die Ladenflächen des Aquis immer gut ausgefüllt, bei den Aachenerinnen und Aachenern, die vom Charme ihrer historischen Kaiserstadt verwöhnt sind, ist es dennoch nicht wirklich beliebt. Und: In den umgebenden Straßen zeigte sich von Anfang an Leerstand. Politik und Investor zogen nicht an einem Strang, die Interessen widersprachen sich. Trotz Impulsen aus der Bürgerschaft gelang es nicht, ein für alle Wirtschaftstreibende und Bewohner gleichermaßen erfolgreiches und erfüllendes Konzept zu entwickeln.

Dabei ist man in Aachen leidgeprüft. Eine erst 2008 eröffnete Mall im Osten der Stadt – drei Ebenen, 21.600 Quadratmeter Ladenfläche – stehen inzwischen fast vollständig leer, ohne jegliche (öffentlich bekannte) Perspektive. Der ehemalige „Impulsgeber“ für das Stadtviertel: ein trauriger Kasten, dessen Ladenlokale nun immerhin Raum für das Corona-Callcenter des Gesundheitsamts liefern.

Ein ähnliches Bild begegnet uns am ehemaligen Horten-Gebäude. Nach Schließung eines Kaufhauses im Jahr 2017 bietet sich hier die Chance, ein neues Stadtviertel neu zu gestalten. Viele der Gebäude in der Nachbarschaft sind aufgekauft. Dennoch gibt es bislang keine Pläne, auf die sich Investor und Stadt einigen können. Die Konsequenz: ein riesiges, zentrales Gebäude steht nun schon knapp vier Jahre nahezu leer, die Einkaufsstraße, die die Markt und Elisenbrunnen mit dem ehemaligen Kaufhaus verbindet, stirbt. Und quer durch die Stadt sehen wir: Leerstand.

Nicht jedes dieser Ladenlokale wird nach Corona wieder öffnen. Fotos: Heiko Walter, wa-ka, 2021.

Leises Sterben, laute Intensivbetreuung

Jede dieser Entscheidungen registrieren die Ladeninhaber in ihrer Kasse – die endlich getroffenen und die stetig hinausgeschobenen, die sorgfältig geplanten, die zufälligen und die missglückten. Gleichzeitig erhöhen sich ihre Kosten, denn trotz geringerer Besucherfrequenzen stiegen die Mieten in den Fußgängerzonen. Ein Problem, das aus auch in vielen anderen Städten für den Rückzug inhabergeführten Einzelhandels sorgt. Das Ergebnis sehen wir längst, Aachen ist massiv von den Geschäftsaufgaben gezeichnet. Viele der innerstädtischen Boutiquen etwa sind inhabergeführte Geschäfte, die nun leise sterben. Diese Gewerbebetriebe stellen keinen Insolvenzantrag. Sie schließen eines Tages ab und dann nie wieder auf.

Mit nicht zu überhörender medialer Berichterstattung dagegen eröffneten einige große Textilketten in den vergangenen Jahren Insolvenzverfahren, auch schon vor Corona: Sinn, Galeria Karstadt Kaufhof, Adler, Tom Tailor, Esprit. Im Frühjahr geriet Galeria Kaufhof mit einer Summe von 460 Millionen Euro „Rettungsdarlehen“ vom Staat in die Schlagzeilen. Das Ziel: nicht weniger als der hehre Wunsch, den Strukturwandel aufzuhalten und Innenstädte zu retten. Sinnvoll oder nicht, der Inhaberin eines Damenmodegeschäfts in Aachen wird diese Summe kaum zu vermitteln sein. 

Es wird Jahre dauern, bis sich Innenstädte wie die Aachens von der Corona-Pandemie erholt haben. Zwar ist die prophezeite Corona-Insolvenzwelle für weite Teile der Wirtschaft ausgeblieben, der Einzelhandel jedoch kann nicht aufatmen. Kurzarbeit und Corona-Hilfen haben zum Überleben nicht ausgereicht. Selbst der findigste Einzelhändler konnte nur einen (zu) geringen Unkostenbeitrag erwirtschaften. Gerade bei den Kleidungs- und Schuhgeschäften liegen die Geschäfte seit Frühjahr 2020 voller nicht abverkaufter Ware. Bevor neue Kollektionen überhaupt finanziert werden können, müssen Rabatte zu Platz im Laden und Geld auf dem Konto führen.

Die Rabatte sollen’s richten. Fotos: Heiko Walter, wa-ka, 2021.

Die Folgen für die Gesellschaft

Wenn aber Großunternehmen milliardenhohe Gewinne ausweisen, obwohl die Fließbänder über Wochen stillstanden – unter anderem ermöglicht durch den Fluss von Kurzarbeitergeld –, während auf der anderen Seite Tausende Einzelhändler mit Verlust verkaufen oder gar komplett aufgeben müssen, weil das Geld nicht mehr zum Leben reicht: Ist dann nicht etwas falsch gelaufen? 

Der Handelsverband HDE schätzt, dass für rund 120.000 Geschäfte aktuell Existenzgefahr bestehe. „Mit den Unternehmen wanken ganze Innenstädte“, erklärt HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth im März 2021. Seit dem 16. Dezember 2020 habe der vom Lockdown betroffene Einzelhandel zwischen 35 und 40 Milliarden Euro Umsatz verloren. Pro geschlossenem Verkaufstag erwarte man weitere Verluste von bis zu 700 Millionen Euro. Zum Vergleich: Der Online-Modehändler Zalando freute sich 2020 über 23 Prozent mehr Umsatz und 120 Prozent mehr Gewinn.

Einzelhandel, Gastronomie und Veranstaltungswirtschaft trügen zwar zusammen weniger als zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, rechnet die Frankfurter Allgemeine Zeitung vor – schiebt aber umgehend hinterher, dass aber die Bedeutung dieser Zahlen nicht zu unterschätzen sei. Absolut nachvollziehbar: Was schlägt bei einem Stadtbummel mehr auf die Stimmung als dauerhaft leerstehende Ladenlokale? Was vermiest uns mehr die Laune als das Lieblingseiscafé, das seine Schließung bekannt gibt? Und wer sponsert eigentlich den örtlichen Fußballverein, wenn nicht der inhabergeführte Optiker unserer Stadt? Wer hilft mit Personal und Schankwagen beim Schützenfest, wenn nicht der Getränkehändler oder die Kneipe im Vorort? Es sind mehr als nur Einzelhandelsstrukturen, die hier auf der Kippe stehen.

Die Folgen für Unternehmen

In Aachen versucht man unter anderem gemeinsam mit der IHK, die Stadtentwicklung voranzutreiben. Um das öffentliche Leben trotz Corona wieder etwas in Gang zu bringen, bewarb man sich als Modellstadt für Öffnungen. Die ermöglicht dem Einzelhandel weiterhin Click & Meet-Termine, wenn Kunden einen tagesaktuellen negativen Corona-Test vorweisen können. 

Ist dies der richtige Weg, und wird er die Misere lindern? Wie genau sich die Folgen der Corona-Krise verketten, zeigt sich erst in den nächsten Monaten. Neben den von Corona besonders stark betroffenen Branchen – der Textil- und der Einzelhandel sind nur einige – beobachten wir bereits eine Verkürzung der Zahlungsziele. Aus Angst vor Forderungsausfällen stellen Lieferanten ihre Neukunden oder nicht fristgerecht zahlende Kunden auf Vorkasse um. Die Angst ist berechtigt, zudem droht weiterhin das Risiko Insolvenzanfechtung.

Vorkassen jedoch werden das Leben der Einzelhändler und Gastronomen weiter erschweren, denn Liquidität ist Mangelware. Mit Hilfe einer Auskunftei und einer Warenkreditversicherung können Sie sich gegen Forderungsverluste wappnen. Mit positiven Wirtschaftsauskünften oder Zahlungserfahrungen können Sie Ihren Kunden im sogenannten Pauschalteil der Kreditversicherung versichern und so die notwendige Liquidität auf ein stabiles Fundament stellen. 

Keine News mehr verpassen:

Abonnieren Sie uns auf LinkedIn

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert